Auszug aus dem autobiografischen Roman "Kindheit und Jugend"

von Geiss Haejm

Über meinen Vater

"....(.....) Mit Hebeln und Kurbeln bewegte der Vater die Gleise des heimischen Bahnhofes und verteilte die gewaltigen Züge in die Richtun­gen, die ihm sein Dienstplan vorgab. Er war Betriebsaufseher und saß in einem Stellwerk am Ende des Bahnhofes, das äußerlich ein wenig an ein Gewächshaus erinnerte. Darin war es im Sommer so heiß, daß man ohne weiteres hätte Bananen ziehen können. Im Winter dagegen schaffte es ein koksbeheizter eiserner Ofen trotz glühendem Rauchrohr kaum, die Temperatur in den Nächten auf für Menschen erträgliches Niveau anzuheben.

Ich besuchte meinen Vater gerne bei seiner Arbeit und durfte dann schon einmal eine bimmelnde Schranke herunterkurbeln oder eine Weiche auf einem Nebengleis verstellen. Die Tätigkeit der Vaters erschien mir sehr bedeutend, denn eine falsch gestellte Weiche oder ein anderes Versäumnis konnte ja eine Katastrophe auslösen. Gerne hätte ich den Vater auch in Uniform gesehen, doch der hatte etwas gegen jegliche Uniformierung, war er doch, wie viele seines Jahrganges, mit sechzehn Jahren von den Nazis eingezogen worden, erst zum Arbeitsdienst, dann zu Aufräumdiensten in den zerbombten Städten. Ob er auch an Kampfhandlungen teilgenommen hat, weiß ich bis heute nicht, denn mein Vater redet ungern über diese Zeit. Nur einmal erzählte mir der Vater, wie sie von Ausbildern geschliffen worden waren und Löcher schaufeln und danach wieder zuschütten hatten müssen. Auch die Zeit in amerikanischer Gefangenschaft erwähnte er einmal und dass sich die total unterernährten deutschen Kriegsgefangenen, um nicht zu erfrieren, in Erdlöchern eingraben mußten. Dies sei aber verboten gewesen und die Amerikaner seien mit Fahrzeugen über die Vergrabenen hinweggefahren. Von einem anderen Gefangenen aus unserem Ort erfuhr ich einmal, dass die US-Lager auf den Rheinwiesen bei Bad Kreuznach die Hölle gewesen waren.

Mein Vater war ein friedfertiger Mensch, der jeden Streit zur vermeiden suchte. Daß er nach dem Krieg eine Zeit in einer Boxstaffel kämpfte, will so gar nicht zu ihm passen, doch sein gebrochenes Nasenbein zeugte von den bestrittenen Kämpfen. Diese Nase imponierte mir immer sehr, denn vergleichbares sah ich sonst nur bei Indianerhäuptlingen...

Für Politik interessierte sich der Vater kaum, schimpfte nur gelegentlich in allgemeiner Form gegen “die da oben”, die seiner Ansicht nach machen, was ihnen paßt und sich um die Interessen der kleinen Leute nicht kümmern. Bei Wahlen gab er den Sozialdemokraten seine Stimme, was ihn aber nicht daran hinderte, heftig gegen die Gewerkschaften vom Leder zu ziehen, von denen ihn schlechte persönliche Erfahrungen trennten. Überhaupt mißtraute er allen Bürokraten und Akademikern, die ständig irgendwelche Pläne ausheckten, ohne von den Notwendigkeiten vor Ort Ahnung zu haben. Vom Staatsbetrieb Bundesbahn konnte er da die unglaublichsten Dinge berichten.

Seine große Liebe gehörte von Kindheit an den Brieftauben. Bis heute verbringt er seine freie Zeit gerne in oder vor dem Taubenschlag. An den Sommerwochenenden schickt er die Vögel, gemeinsam mit denen von Vereinskollegen, mit einem beringten Fuß in die Ferne, von wo sie dann anderntags in bewundernswertem Flug heimkehren. Ich interessierte mich für die Brieftauben nur beiläufig, etwa wenn ich Federn für einen Kopfschmuck zum Indianerspielen brauchte oder wenn die Mutter gebratene Täubchen mit Kartoffelbrei auf den Tisch brachte, was meinen Vater zweifellos enttäuschte.

So sehr ich auch nachdenke, ich kenne keinen bescheideneren und anspruchsloseren Menschen als meinen Vater. Auch wenn  wir uns während meiner Pubertät oft gestritten haben und er mir auch später sagte, wenn ihm etwas an meinem Tun mißfiel- damit war die Sache dann aber auch erledigt. Wenn wir uns kurze Zeit später sahen, war er freundlich wie immer und erwähnte den Konfliktpunkt mit keinem Wort mehr. (...)