Der Schock nach der Schlacht

Israel ist entsetzt über die Brutalität seiner Armee im Gaza-Krieg


Wie moralisch - oder unmoralisch - ist Israels Armee? Über diese Frage ist nach der Veröffentlichung schockierender Aussagen israelischer Soldaten, die am Gaza-Krieg vor drei Monaten teilgenommen haben, ein Glaubenskampf ausgebrochen. Verteidigungsminister Ehud Barak sagt, Israels Armee sei "eine der moralischsten weltweit". Doch so muss Barak sprechen, denn er möchte der neuen Koalitionsregierung des Rechten Benjamin Netanjahu beitreten und Verteidigungsminister bleiben. Eine Untersuchung wegen Kriegsverbrechen, wie sie von UN-Vertretern gefordert wird, kann Barak da nicht brauchen.

Baraks Loblied auf seine Truppe stehen authentische Aussagen von Soldaten gegenüber, die das Bild einer verwerflichen Armee zeichnen. Einer Armee, für die "das Leben von Palästinensern sehr, sehr viel weniger wert ist als unseres", wie es ein Soldat beschreibt. Die Veröffentlichung von Soldatenberichten in der Zeitung Haaretz haben dazu geführt, dass die Armee nun einige Vorfälle untersuchen lässt. Die Aussagen der Soldaten, die bereits vorigen Monat während einer Versammlung an einer Militärakademie gemacht und erst jetzt in einem Informationsblatt der Akademie veröffentlicht wurden, sind von großem Wert, da wegen Israels Militärzensur bislang keine Berichte über die Einsatzbefehle im Gaza-Krieg bekannt geworden waren.

Und sie sind haarsträubend. Kommandeure sollen gesagt haben: "Schießt und schützt Eure Kameraden, und sorgt Euch nicht um Konsequenzen!" Die Moral, sagt ein Soldat, der seine Identität hinter dem Pseudonym "Ram" versteckt, sei beiseite geschoben worden. Er beschreibt, wie einer seiner Kameraden eine ältere Palästinenserin erschossen habe: "Du siehst eine Person auf der Straße. Sie muss keine Waffe mit sich tragen, du musst sie nicht identifizieren. Du kannst sie einfach erschießen. In unserem Fall war es eine ältere Frau." Er nenne das "kaltblütigen Mord".

Ein Kamerad von "Ram" berichtet, wie eine Mutter und zwei Kinder von einem Scharfschützen getötet worden seien, weil sie die Anweisung, nach links zu gehen, verwechselt hätten und nach rechts gegangen seien. Andere erzählen, wie Soldaten Häuser von Palästinensern, in denen sie tagelang Stellung bezogen, verwüstet und mit Exkrementen verunreinigt hätten.

"Ram" berichtet auch, wie Armee-Rabbiner die Soldaten mit religiösen Parolen für den Kampf gegen die radikal-islamische Hamas indoktriniert hätten. Die Rabbiner hätten massenhaft religiöse Texte verteilt, die den Kampf gegen die Hamas in einen Glaubenskrieg uminterpretiert hätten: "Immer wieder hat man uns gesagt: ,Wir Juden sind durch ein Wunder in dieses Land gekommen. Wir müssen kämpfen und die Nicht-Juden aus unserem Land vertreiben"."

In Israel wird jetzt heftig diskutiert, wie dominant die Religion bei der Kriegsführung im Gaza-Streifen war. Kritiker werfen dem Chef-Rabbiner der Armee, Avichai Rontzki, vor, er betreibe eine Missionierung der Soldaten und versuche, Israels Verteidigungsarmee in eine Glaubenstruppe umzufunktionieren.

Rontzki, der in der Vergangenheit behauptet hat, bei "humanistischen Werten" handele es sich um "rein subjektive Gefühle", hat gemeinsam mit anderen Rabbinern die Truppen mitten im Gaza-Krieg besucht. Er soll mit den Soldaten zusammen gebetet und Texte an sie verteilt haben. In einem hieß es: Erbarmen im Kampf zu zeigen, sei "furchtbar unmoralisch". Thorsten Schmitz


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.68, Montag, den 23. März 2009 , Seite 1