Fliegende Augen für alle Köpfe

In Großbritannien erfassen Kameras fast jede Bewegung der Bürger - nun will die Polizei auch noch Drohnen einsetzen

Von Wolfgang Koydl

London - Von der eigenen Haustür sind es nur 300 Meter bis zu den ersten beiden Kameras: die eine fotografiert und blitzt Raser auf dem Kingston Hill, die andere hält ein wachsames Auge auf den Eingang zu einem Pub. Dann sind es nur ein paar Schritte zum Zebrastreifen - weitere Verkehrskameras und dazu zwei Objektive, die - warum auch immer - eine Baustelleneinfahrt im Auge behalten. Ein roter Doppeldecker-Bus brummt vorbei: Er ist innen wie außen mit Kameras bestückt - die einen überwachen die Fahrgäste, die anderen den Verkehr.

Beim Zeitungshändler erhascht man auf dem Monitor hinter der Kasse einen Blick auf sich selbst, wenn die Sicherheitskamera umschaltet; Barclays Bank überwacht ihren Geldautomaten ebenfalls visuell und elektronisch, und Vorplatz, Schalterhalle, Fußgängerunterführung sowie die zwei Bahnsteige des bescheidenen Vorstadtbahnhofes Norbiton sind mit nicht weniger als einem Dutzend Aufnahmegeräten bestückt. Nach Art von Scharfschützen sind sie so aufgestellt, dass sie das gesamte Areal bestreichen, ohne dass irgendwo ein toter Winkel bleibt.

Mehr als zwanzig sogenannter CCTV Cameras (Closed Circuit Television) sind es auf dem knapp viertelstündigen Fußmarsch von der Wohnung des SZ-Korrespondenten bis zum Bahnhof. Und was einer friedlich-beschaulichen Vorstadt außerhalb Londons recht ist, kann der Millionenmetropole und dem Rest des Vereinigten Königreiches nur billig sein: Mehr als vier Millionen Überwachungskameras sind mittlerweile auf Straßen und Plätzen, Gebäuden und Monumenten des Landes montiert: eine Kamera für 14 Menschen - ein Weltrekord. Ein Mensch, so hat man errechnet, der sich einen Tag in London aufhält, wird rund 300 Mal von einem Objektiv erfasst und gefilmt.

Der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden reicht dies allerdings nicht mehr aus. Sie empfinden es als Nachteil, dass Kameras fest an einen Ort gebunden sind - auch wenn sie notfalls von Kamera zu Kamera weiterschalten und so einen Verdächtigen über eine längere Entfernung hin verfolgen können. Aber nun hat die Polizei in Merseyside im Großraum Liverpool mit der Erprobung einer ferngesteuerten, fliegenden Drohne begonnen. "Wir versprechen uns eine große Wirkung bei der Bekämpfung von sozialfeindlichem Verhalten", schwärmte Simon Byrne, der Vizepolizeichef der Region, nach ersten Versuchsflügen.

Lautlos über den Baumwipfeln

Fast lautlos bewegt sich der knapp einen Meter breite und noch nicht einmal ein Kilogramm schwere Miniaturhubschrauber über Baumwipfel und Dachfirste. An seinem Bauch hängt ein Objektiv, das bis zu 500 Meter Höhe gestochen scharfe Bilder übertragen kann - entweder direkt in die Virtual-Reality-Brille des Beamten, der das Gerät mit dem Joystick steuert, oder auf den Monitor in der Einsatzzentrale. Nachts schaltet die Kamera auf Infrarot um, und wenn man will, kann man die Drohne auch mit Daten programmieren und alleine Streife fliegen lassen. Wen das an die Predator-Drohnen erinnert, mit denen der US-Geheimdienst CIA in Afghanistan oder Jemen Al-Qaida-Terroristen jagt, der liegt nicht falsch: Sie standen Pate für das zivile Projekt.

Noch sind es nur Tests, aber niemand in Großbritannien bezweifelt, dass die fliegenden Späher über kurz oder lang landesweit zum Einsatz kommen werden. Denn bislang wurde noch jede neue Form der Bürgerüberwachung im ganzen Land eingeführt. Zuletzt waren es die sprechenden Kameras, die zunächst in der mittelenglischen Kleinstadt Middlesbrough erprobt worden waren. Wer beispielsweise eine Coladose auf die Straße wirft, dem kann es passieren, dass ihn eine Stimme lautstark ermahnt: "Hey, Sie im blauen Sakko, würden Sie das bitte in den Abfalleimer werfen." Wer sprechen kann, der soll auch hören können: die nächste Stufe ist bereits in Vorbereitung - Kameras mit Richtmikrofonen, die Gespräche belauschen sollen.

Zu größeren Protesten aus der Bevölkerung ist es bisher nicht gekommen. Viele Briten machen sich die Auffassung der Polizei zu eigen, die darauf verweist, dass häufig Verdächtige dank CCTV-Bildern ermittelt und dingfest gemacht werden können. Ob Kameras jedoch einen Beitrag zur Verhütung von Verbrechen leisten, ist umstritten. Selbst das Innenministerium stellte fest, dass "CCTV kaum einen Einfluss auf Verbrechensraten hatte".

"1984" in 2007

Auch beim "Information Commissioners Office" (ICO), das für Fragen des Datenschutzes zuständig ist, kann man sich nicht erklären, warum es so wenig Widerstand gegen die Bespitzelung gibt. "Es hat keinen Sinn, über die Vor- und Nachteile einer Überwachungsgesellschaft zu streiten", hatte schon im vergangenen Jahr ICO-Chef Richard Thomas betrübt konstatiert. "Wir haben schon solch eine Gesellschaft." Es war der britische Schriftsteller George Orwell, der in dem Roman "1984" eine grauenerregende Zukunft beschrieben hatte, in der ein "Big Brother" jede menschliche Aktivität eines jeden Einzelnen überwacht. Und Orwell konnte noch nicht einmal, wie der soeben vorgelegte jüngste ICO-Bericht nüchtern feststellt, die Entwicklung von Computern und all ihren schier unendlichen technologischen Möglichkeiten voraussehen.

Doch für die meisten Briten heute ist "Big Brother" nichts anderes als der Titel einer populären Reality-Show im Fernsehen. Die Regierung hat daher wohl auch recht gute Chancen, ihr neuestes Projekt durchzusetzen. Dabei geht es in erster Linie darum, im vom Verkehrskollaps bedrohten Britannien Straßenbenutzungsgebühren zu erheben.

Nach den schon verhältnismäßig weit gediehenen Plänen wird man für jede Straße bezahlen müssen - gestaffelt je nach Größe, Lage und Tageszeit. Eine Fahrt auf der Stadtautobahn im Berufsverkehr wird demnach teurer zu Buche schlagen als ein Heimweg nachts auf dem flachen Land. Technisch lässt sich dies freilich nur bewerkstelligen, wenn per Satellit jedes Fahrzeug zu jedem Zeitpunkt ausgespäht wird. Doch dazu werden alle Autos mit Computer-Chips ausgerüstet werden müssen.

Zukunftsmusik? Nicht unbedingt. Zum einen liegen die rechtlichen Voraussetzungen dafür schon in der Schublade, zum anderen gibt es auch in diesem Fall bereits einen Präzedenzfall. London, das mit der City-Maut Autofahrern seit Jahren einen Eintrittspreis für Fahrten in die Innenstadt abverlangt, hat deshalb ein eigenes Kontrollsystem eingeführt. Mehr als 8000 Spezialkameras sind im Stadtgebiet montiert. Sie filmen Autonummern und gleichen sie mit der Zentraldatei ab, in der alle Fahrer erfasst sind, die ihren Obolus für die Stadtfahrt entrichtet haben. Diese Methode freilich mutet schwerfällig und fast schon liebenswert altmodisch an im Vergleich zu einem "Großen Bruder", der vielleicht schon bald vom All aus alle Straßen, Plätze und Wege des Vereinigten Königreiches wie ein Argus rund um die Uhr im Blick hat.

Quelle: Süddeutsche Zeitung

Nr.120, Samstag, den 26. Mai 2007